Das Fürstentum Dreieich


"Wenn man an der Grenze zu Dreieich steht", so behauptet manch spöttischer Ramotorier, "könnte man bei sehr klarem Wetter die südlichen Grenzbereiche zu Malorien sehen."
Dass so etwas nicht der Wahrheit entspricht versteht sich von selbst, denn zu dicht ist der Blätterwald des Saumes. Doch bleiben wir bei Dreieich, einem der wunderbarsten Landstriche, die Thamorien zu bieten hat. Es ist sowohl Tongrube als auch Kornkammer. Doch hat Dreieich wahrhaftig nicht nur Backwerk und Töpferwaren zu bieten, nein, auch Wälder, Flüsse und wunderbare Moore prägen die Landschaft.
Die Sumpfgebiete im Norden um das Städtchen Wergenbrecht haben so manchen Dichter zu wilden Gedankenspielen getrieben, was denn dort vor sich gehen mag. Und so mancher mag in dunklen Nächten oder stürmischen Tagen seinen Weg über den Knüppeldamm verloren haben und ist im Morast auf ewig verschwunden. Der Wergenbrechter an sich sieht das natürlich viel lockerer und ist höchst erfreut, wenn man ihn auf die Geschichte und die unzähligen schaurigen Geschichtchen um den Ort befragt. Mit einem kecken Grinsen wird er auf die Frage nach dem verschwundenen Müllerssohn Feriand Bauersnagel antworten: "Den wird in sonniger Nacht die Hure vom Schwadenshof geholt haben."
Ich sehe schon die Frage in euren Gesichtern stehen, wer denn nun diese Hure vom Schwadenshof sei. Aber um hierauf Antwort zu bekommen, solltet ihr in der Tat nach Wergenbrecht reisen, denn die Einwohner können so etwas viel besser erzählen, glaubt mir.
Wenn ihr euch aber schon um Geschichtchen kümmert, dann solltet ihr nach Kwanderat gehen, um die hiesigen kennen zu lernen. Kwanderat ist wahrlich der geschichtsträchtigste Ort der thamorischen und dreieichschen Vergangenheit, denn schließlich sind genau dort diejenigen gelandet, die unser wunderbares Land geeint und zu dem gemacht haben, was es heute ist1 - von diesen verrückten Ramotoriern mal abgesehen. Die mit ihren merkwürdigen Kanzleramtsräten…
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Aber ich möchte auf Kwanderat zurückkommen. Schon von weitem kann man den Obelisken ausmachen, auf dem zu jeder Tages- und Nachtzeit ein Feuer brennt, gleich dem eines Feuerturmes, um die Schiffe von der Küste fernzuhalten. Dieses Feuer ist jedoch auch vom Land einsehbar. König Naran der Erste, der Großvater unseres jetzigen Königs, hatte im Jahre 756nRg beschlossen, dass denjenigen, die unser Land dort betreten haben, ein Zeichen gesetzt werden soll. Und so leuchtet dort seit fast einhundert Jahren das "Ewige Feuer der Landung". Der Obelisk ist fast fünfundzwanzig Ern hoch und auf jeden Fall eine Reise wert, auch wenn er heute nicht mehr von den drei mächtigen Eichen gesäumt wird, die Dreieich dereinst seinen Namen gaben.
Auch die Hauptstadt unseres Landes, Dragenfurt, sollte besucht werden. Die Reisenden, deren Weg dorthin führt, werden zumeist von den merkwürdigsten Gerüchen und Gerichten in den Straßen rund um den Harnischmarkt festgehalten, denn dort gibt es fast alle Dinge, die das thamorische Herz begehrt: zagrosche metallene Schmuckstücke mit den glitzerndsten Edelsteinen, die diesseits des thamorianischen Ozeans zu finden sind, allerhand malorische Stoffe von der einfachsten Wolle bis hin zum edelsten Tuche, oder auch abstruse Sonderbarkeiten aus den Werkstätten Wallgards, deren Besitzer heute noch behaupten, sie hätten Unterhändler im Dunkeltal sitzen. - Unter uns gesagt ist dass natürlich absoluter Blödsinn, aber das einfache Volk will halt unbedingt dran glauben. Das wunderlichste aber, was ich jemals auf dem Harnischmarkt sah, war eine Frau mit einem Fischschwanz und silbrig glänzenden Flügeln, die in einem großen Bottich herum schwamm. Und wenn sie sich mit einem Mal an die Oberfläche begeben hätte und weggeflogen wäre, hätte ich mich darüber auch nicht sehr gewundert. Aber ich habe so sehr von den Gerüchen geschwärmt, dass ich von den Lokalitäten rund um den Harnischmarkt berichten sollte, die dort ihre Waren feilbieten. Den "Schmiederwackel" an der Nordecke müsst ihr ausprobieren, wenn ihr euch zu den süßdeftigen Speisen hingezogen fühlt - besonders zu empfehlen ist das Baccaren-Ragout mit Him- und Bromcaren und Erdbaccaren, aber auch das Arinen-Käse-Gebäck ist ein Gaumenschmaus.
Dicht daneben liegt das "Akeranti". Dieses Gasthaus ist allerdings schon seit einigen Jahren geschlossen. Es heißt, dass es dort zu einem Streit um die angebotenen Gerichte gekommen sei. Warum, das mögt ihr lieber die alten Dragenfurter fragen, obwohl man bei solchen Fragen auf die Betonung achten sollte, denn sonst fühlen die sich angegriffen, als hätten sie selbst den Streit um das Essen entfacht.
Genau gegenüber liegt das "Gnir", eine Taverne, deren Flossergerichte berühmt und berüchtigt sind. Vor allem in den Abendstunden strömt aus der Küche ein leicht ranziger Geruch, der seinesgleichen sucht und der sich über dem gesamten Markt verteilt. Allerdings habe ich bis zum heutigen Tage noch niemanden kennen gelernt, der das Essen in dieser Taverne überlebt hat. Zugegebenermaßen habe ich aber auch noch nie einen Toten gesehen, der dort hinausgetragen wurde, vom alten Tumbernakel mal abgesehen. Den soll aber etwas ganz anderes geholt haben. Gerüchten zur Folge soll er sich mit einem Wassermann gestritten haben, na ja, aufgespießt hat er ihn mit seinem Dreizack. Aber was soll es? Eigentlich war der alte Tumbernakel immer nur auf Streit und Prügel aus. Ich bin ganz glücklich, dass er nicht mehr unter uns weilt.
Aber ich langweile nur mit meinen mordlüsternen Geschichten. Es gibt noch so viele Stellen in Dreieich, die ihr auf jeden Fall besuchen müsst, wenn es euch dorthin verschlägt. Das dreieich-malorische Grenzgebirge gehört zwar zu den Kleineren auf Thamorien, aber trotzdem soll es dort in verborgenen Schluchten und Tälern so genannte Elfentore geben, die nur diejenigen durchschreiten dürfen, die frei jeglicher Schuld und Sühne sind. Eines dieser Tore soll in einer Felsspalte nahe der Quelle des Dantuig liegen, dem Fluss, welcher Dreieich durchfließt. Es heißt, dass diejenigen, die durch dieses Tor geschritten sind, niemals wieder herausgekommen seien. Also habt Acht, wenn ihr in die Nähe eines solchen Tores kommt, wenn ihr es denn als solches erkennen könnt.
Und ehe ich es vergesse:
Achtet im Saum, der südlich des Grenzgebirges liegt, auf die Lÿre. Es kann geschehen, dass sie mit einem Mal einfach im Boden verschwindet und erst einige Irn später aus dem Boden wieder auftaucht. Ihr könnt in der Zwischenzeit nur einem modrigen Flussbett folgen. Wenn ihr euch aber abermals wieder auf dem Rückweg befindet, dann mag es sein, dass die Lÿre an besagter Stelle wieder ihrem ganz normalen Wasserlauf folgt. Ihr mögt gern an Fluss und Bett entlang wandern, aber wagt euch nie hinein, denn vielleicht verschluckt es auch euch irgendwann. Schließlich weiß man auch hier von Menschen zu erzählen, die nie wieder aufgetaucht sein sollen, bloß weil sie sich in der Lÿre den Staub der Strasse abwaschen wollten.
Und wenn euch all das viel zu spektakulär ist, dann schaut euch die zahllosen Mühlen im Norden und Süden des Landes an. Solch eine Ruhe, nur unterbrochen durch das regelmäßige Flattern der Mühlensegel, werdet ihr hier nirgendwo anders finden. Und wie ich schon gesagt habe, das dreieichsche Tongut alleine ist schon eine Reise wert. Aber wenn euch selbst das nicht reicht, dann setzt euch abends zum Sonnenuntergang an die Küste und genießt die Farben der verschwindenden Sonne im Ozean.



Erzählt von einem Reisenden in einer Taverne nahe der Grenze zu Ramotorien.